Wie es ist, in Berlin den Ruhestand zu verbringen: Martin (64) aus New York erzählt
Im Herbst 2019, während eines Kurzurlaubs in Berlin, standen meine Frau und ich auf der Monbijoubrücke und blickten hinüber zur Museumsinsel. Es war unser fünfter Besuch in der Stadt, und wie so oft, wenn wir durch die Straßen schlenderten, blieb unser Blick an den Aushängen der Immobilienmakler haften.

„Wir könnten das wirklich machen“, sagte meine Frau plötzlich. „Hier leben. Richtig hier.“
Damals lebten wir in einem Vorort von New York City. Ich war Geschäftsführer eines Krankenhauses, meine Frau leitete eine private Pflegeeinrichtung. Unser Alltag war geprägt von endlosen Pendelstrecken und einem Haus, das viel zu groß für zwei Menschen geworden war. Dann kam die Pandemie – und mit ihr die seltene Gelegenheit zur Selbstreflexion. Im Lockdown begannen wir zu rechnen, zu träumen – und schließlich zu planen.
2021 war es so weit. Wir gingen in den Ruhestand, verkauften unser Haus samt Einrichtung und zogen nach Berlin – mit nichts als ein paar Kisten Büchern, Kleidung, Kunst und einem unbeirrbaren Gefühl von Aufbruch.
Ankommen in Mitte
Zunächst mieteten wir, wie wir es allen Auswanderern raten würden. Erst ein möbliertes Apartment, dann, nach sechs Monaten, fanden wir eine helle Altbauwohnung mit hohen Decken, zwei Balkonen und Blick Richtung Bundestag. Die Wohnung liegt in einer ruhigen Seitenstraße unweit des Reichstags, ganz nahe der Spree. In der Nachbarschaft leben Politiker, Diplomaten, Juristen, junge Familien und ein paar ältere Berliner, die sich an die wilden 90er erinnern.
Wir hatten kurz überlegt, uns in Brandenburg niederzulassen oder vielleicht in Weimar – aber Berlin hatte uns schon zu oft angelächelt, um „nein“ sagen zu können. Die Stadt ist groß, kantig, manchmal widersprüchlich – aber immer lebendig.
Alles zu Fuß erreichbar
Was unser Leben hier verändert hat, ist die schlichte Nähe zu allem. Apotheke, Hausarzt, Bäcker, Lebensmittelmärkte, das Kino am Potsdamer Platz – alles fußläufig. Wir besitzen kein Auto mehr und vermissen es auch nicht. Stattdessen: Fahrrad, S-Bahn, Spaziergänge durch das Regierungsviertel oder entlang der Spree.
Kosten und Lebenshaltung
Berlin ist nicht New York – noch nicht. Zwar steigen auch hier die Preise, doch im Vergleich zu New York ist das Leben bezahlbar. Unsere Eigentumswohnung hat uns knapp 850.000 Euro gekostet, inklusive aller Gebühren und Maklerkosten. Für vergleichbare Objekte in so einer ähnlichen Lage in New York hätten wir mindestens das Vierfache zahlen müssen.
Die monatlichen Nebenkosten liegen bei rund 350 Euro, inklusive Heizung, Wasser und Treppenhausreinigung. Für Strom zahlen wir etwa 90 Euro, Internet, Telefon und Streaming rund 60 Euro.
Die Sache mit der Sprache
Einen echten Kulturschock hatten wir nie – aber wir haben uns bewusst bemüht, nicht in einer englischsprachigen Blase zu leben. Englisch allein reicht in Berlin aus, um durchzukommen. Doch um anzukommen, braucht es Deutsch.
Wir nehmen regelmäßig Sprachunterricht. Meine Frau besucht eine kleine Konversationsgruppe, geleitet von einer pensionierten Lehrerin aus Charlottenburg, die Tee serviert und Goethe zitiert. Ich treffe mich einmal die Woche mit einem älteren Herrn, der mir bei Kaffee und Streuselkuchen Grammatik erklärt und Berliner Anekdoten erzählt. Unsere Fortschritte sind langsam, aber stetig. Und sie machen unser Leben hier tiefer, reicher, menschlicher.
Berlin als Tor nach Europa
Wir reisen mehr denn je. Von Berlin aus ist fast jede europäische Hauptstadt mit dem Zug oder einem Kurzflug erreichbar. Ein Wochenende in Kopenhagen, ein paar Tage in Budapest oder ein Konzert in Wien – all das ist möglich, oft spontan. Wir waren sogar schon in der Heimat des zukünftigen Kanzlers Friedrich Merz, das Sauerland lohnt sich wirklich, so grün! Wir haben gelernt, mit leichtem Gepäck zu reisen, buchen lieber ein charmantes Gästehaus als ein großes Hotel und kehren jedes Mal mit dem gleichen Gefühl zurück: Wie gut, dass Berlin unser Zuhause ist.
Die kleinen Eigenheiten
Natürlich hat auch Berlin seine Tücken. Die Berliner Direktheit ist gewöhnungsbedürftig – besonders für höflich geprägte Amerikaner. Einmal bat ich freundlich um „ein Glas Leitungswasser“ im Café, woraufhin die Kellnerin trocken entgegnete: „Haben wir nicht. Kaufen Sie was oder gehen Sie raus.“ Aber solche Momente sind inzwischen eher Anlass für ein Schmunzeln als für Frustration.
Was uns gefällt: die Liebe zur Diskussion, die Pflege von Kiezkultur, die Widerständigkeit gegen Schnelllebigkeit. Der Buchladen an der Ecke ist noch da, genauso wie der kleine Laden, in dem ein älterer Herr historische Stadtpläne verkauft. Ich kaufe ab und zu eine Karte – nicht weil ich sie brauche, sondern weil ich will, dass es diesen Ort weiterhin gibt.
Drei Jahre später
Wir vermissen Amerika nicht, vor allem Trumps Amerika überhaupt nicht. Unsere Tochter lebt in Amsterdam und besucht uns regelmäßig. Freunde aus den Staaten kommen oft vorbei. Berlin ist der Ort, an dem wir alt werden wollen. Nicht nur wegen der Kultur, der Geschichte oder des Essens – sondern wegen der Möglichkeit, ein anderes Leben zu führen. Ein langsameres. Ein aufmerksameres. Eines mit weniger Besitz, aber mehr Verbindung.
Nach nunmehr vier Jahren fühlen wir uns nicht nur als Gäste, sondern als Teil dieser Stadt. Und das ist vielleicht das schönste Geschenk, das Berlin uns gemacht hat.