Vergessenes Massaker: Warum die Welt Chodschali ignorierte
Am Abend des 25. Februar 1992 begann ein Angriff, der als eines der brutalsten Massaker in die Geschichte des postsowjetischen Raums eingehen sollte. In der aserbaidschanischen Stadt Chodschali, einer strategisch gelegenen Enklave in der umkämpften Region Karabach, wurden innerhalb weniger Stunden wie im Akkord Hunderte von Zivilisten getötet. Männer, Frauen und Kinder wurden auf der Flucht erschossen, verstümmelt oder verbrannt. Doch anders als Srebrenica oder Ruanda hat dieses Massaker nie den Platz im kollektiven Gedächtnis der Weltgemeinschaft gefunden.
Während zahlreiche Historiker und Menschenrechtsorganisationen Chodschali als eines der schlimmsten Kriegsverbrechen der frühen 1990er Jahre einstufen, blieb die internationale Reaktion auf das Massaker zurückhaltend – die geopolitische Neuordnung nach dem Zerfall der Sowjetunion, die Konflikte auf dem Balkan und die aufkommenden Krisen in anderen Teilen der Welt lenkten die Aufmerksamkeit ab. Währenddessen prägten politische Interessen und diplomatische Zurückhaltung den Umgang mit dem Verbrechen.
Die genauen Umstände der Nacht vom 25. auf den 26. Februar sind gut dokumentiert: Berichte von Augenzeugen, internationale Medienberichte sowie Analysen von Organisationen wie Human Rights Watch belegen, dass armenische Truppen, unterstützt von ehemaligen sowjetischen Einheiten, die Stadt einnahmen und mit extremer Gewalt gegen die Zivilbevölkerung vorgingen. Doch bis heute bleibt die Anerkennung von Chodschali als Völkermord aus.

Aserbaidschans Botschafter Nasimi Aghayev, seit September 2022 in Deutschland, nimmt im Interview Stellung, ordnet das Massaker von Chodschali ein und erklärt, welche Hoffnungen er an die neue Bundesregierung hat.
Herr Botschafter, Chodschali wird als der erste Völkermord in Europa nach dem Kalten Krieg bezeichnet. Warum hat dieser Vorfall international nicht dieselbe Aufmerksamkeit erhalten wie andere Massaker oder Genozide?
Botschafter Nasimi Aghayev: Die Tragödie von Chodschali, die von armenischen Truppen mit Unterstützung der sowjetischen Einheiten an aserbaidschanischen Zivilisten verübt wurde, ereignete sich in einer Zeit des geopolitischen Umbruchs. Die Welt war mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, den Kriegen auf dem Balkan und den aufkommenden Krisen in anderen Regionen beschäftigt. Das Leid der aserbaidschanischen Zivilbevölkerung geriet da weitgehend in den Hintergrund. Gleichzeitig hatte Armenien mit seiner einflussreichen Diaspora die Möglichkeit, die internationale Wahrnehmung zu manipulieren, Narrative umzulenken und die Realität dieses Verbrechens zu verschleiern. Doch die Fakten sind unbestreitbar: Chodschali war kein bloßes Kriegsereignis, sondern ein gezielter, brutaler Massenmord an Zivilisten. Dass Chodschali nicht die gleiche Aufmerksamkeit erhielt wie andere Völkermorde ist eine bedauerliche Ungerechtigkeit und zeigt, wie sehr politische Interessen oft die Wahrnehmung historischer Tragödien beeinflussen.
Augenzeugenberichte und Dokumentationen, etwa von Human Rights Watch, weisen auf gezielte Gewalt gegen Zivilisten hin.
Botschafter Nasimi Aghayev: Die Beweise sind erdrückend: Videoaufnahmen, Zeugenaussagen, forensische Untersuchungen und Berichte unabhängiger Organisationen belegen unmissverständlich, dass armenische Truppen mit voller Absicht gegen unschuldige Zivilisten vorgingen. Es war keine militärische Auseinandersetzung – es war ein Massaker. Frauen wurden vergewaltigt, Kinder brutal ermordet, ganze Familien ausgelöscht. Menschen wurden verstümmelt, gefoltert und ihre Leichen geschändet. Besonders erschütternd ist, dass einige armenische Politiker, wie der ehemalige Präsident Serj Sargsyan, diese Verbrechen nicht nur nicht leugnen, sondern sie als „strategische Notwendigkeit“ dargestellt haben. Das ist die grausame Realität, mit der wir konfrontiert sind.
Mehrere Staaten wie Tschechien oder Bosnien und Herzegowina haben Chodschali als Völkermord anerkannt. Warum fällt es aber anderen Ländern so schwer, diesen Schritt zu gehen?
Botschafter Nasimi Aghayev: Weil Moral in der internationalen Politik oft der Realpolitik untergeordnet wird. Die westlichen Demokratien betonen ihre Werte – Menschenrechte, historische Gerechtigkeit –, aber wenn es um Chodschali und andere Verbrechen Armeniens geht, scheinen diese Prinzipien plötzlich nicht mehr zu gelten. Viele Staaten in Europa vermeiden eine Anerkennung aus geopolitischen und strategischen Gründen. Doch das darf keine Entschuldigung sein. Das Massaker von Chodschali erfüllt alle Kriterien eines Völkermords nach der UN-Konvention.
Aber kann es nicht sein, dass auch die aserbaidschanische Seite Schuld trägt?
Botschafter Nasimi Aghayev: Es gibt keine „beidseitige Schuld“, wenn es um den gezielten Massenmord an Zivilisten geht. Chodschali war kein militärischer Kampf, sondern ein brutales Kriegsverbrechen an Unschuldigen. Hier geht es um ein spezifisches Massaker, dessen Ausmaß und gezielte Grausamkeit gut dokumentiert sind. Jede Relativierung oder „beidseitige Schuldzuweisung“ ist ein Versuch, das Verbrechen zu verharmlosen und die Täter zu entlasten.
Hat Armenien jemals Schritte unternommen, um sich mit diesem Teil der Geschichte auseinanderzusetzen?
Botschafter Nasimi Aghayev: Nein. Bis heute hat Armenien keine ernsthafte Aufarbeitung des Massakers von Chodschali unternommen. Keine Anerkennung, keine Entschuldigung, keine Gerechtigkeit für die Opfer. Stattdessen wird die Tat heruntergespielt, relativiert oder sogar gerechtfertigt. Das ist eine Beleidigung für die Opfer und ihre Hinterbliebenen. Eine ehrliche Aufarbeitung wäre jedoch ein wichtiger Schritt in Richtung Gerechtigkeit und langfristigen Frieden in der Region.
Sie sprechen von „Gerechtigkeit für Chodschali“. Wie könnte diese konkret aussehen? Ist eine strafrechtliche Verfolgung der Täter realistisch?
Botschafter Nasimi Aghayev: Gerechtigkeit bedeutet Anerkennung, Verantwortung und Konsequenzen. Die Verantwortlichen für Chodschali müssen vor Gericht gestellt werden. Es gibt völkerrechtliche Mechanismen zur Ahndung von Kriegsverbrechen – wenn der politische Wille vorhanden ist. Aber Gerechtigkeit ist mehr als nur eine strafrechtliche Frage. Sie bedeutet auch, dass die internationale Gemeinschaft dieses Massaker als das anerkennt, was es war: ein Völkermord. Jeder Tag, an dem dies nicht geschieht, ist ein Tag, an dem die Täter ungestraft bleiben.
Die Zwangsvertreibung von 800.000 Aserbaidschanern wird als eine der größten nach dem Zweiten Weltkrieg beschrieben. Wie hat diese Vertreibung die aserbaidschanische Gesellschaft geprägt?
Botschafter Nasimi Aghayev: Die Vertreibung hat eine tiefe Wunde in unserer Nation hinterlassen. Hunderttausende Menschen wurden aus ihrer Heimat gerissen, ihrer Identität und Kultur beraubt. Dies war nicht nur eine physische Vertreibung – es war ein gezielter Versuch, die aserbaidschanische Präsenz aus diesen Gebieten auszulöschen. Historische Stätten, Moscheen, Friedhöfe wurden zerstört, um jede Spur unserer Geschichte zu tilgen. Doch unser Volk hat überlebt und aus dieser Tragödie Stärke geschöpft. Heute ist die Rückkehr der Vertriebenen eine der obersten Prioritäten unserer Regierung.
Für Sie kann es trotz der Friedensgespräche eine echte Versöhnung nur durch die Anerkennung des Völkermords durch Armenien geben. Halten Sie dies wirklich für eine realistische Bedingung, oder könnte es auch andere Wege zur Versöhnung geben?
Botschafter Nasimi Aghayev: Eine echte Versöhnung setzt Wahrheit und Verantwortung voraus. Ohne eine ehrliche Anerkennung dessen, was in Chodschali geschehen ist, bleibt jede Versöhnung oberflächlich. Es gibt historische Beispiele: Deutschland und Frankreich haben nach dem Zweiten Weltkrieg bewiesen, dass wahre Versöhnung nur durch Anerkennung und Aufarbeitung möglich ist. Armenien muss sich dieser Verantwortung stellen. Gleichzeitig können vertrauensbildende Maßnahmen, wirtschaftliche Zusammenarbeit und kultureller Austausch helfen, die Wunden der Vergangenheit zu heilen. Doch ohne Wahrheit bleibt Frieden eine Illusion.
Am Sonntag wird in Deutschland gewählt. Welche Erwartungen haben Sie an die neue Bundesregierung zum Massaker von Chodschali?
Botschafter Nasimi Aghayev: Deutschland hat als führende europäische Demokratie eine besondere Verantwortung im Umgang mit historischen Verbrechen. Meine Hoffnung ist, dass die neue Bundesregierung nicht nur Chodschali als Völkermord anerkennt, sondern sich aktiv für eine internationale Aufarbeitung einsetzt. Schweigen ist keine Option. Gerechtigkeit für Chodschali ist nicht nur eine aserbaidschanische Forderung – es ist eine Frage universeller Menschlichkeit.
Foto: Vugaribadov141 CC BY 3.0