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„Die Brandmauer ist Geschichte“ - Ein Gespräch über die strategische Neuausrichtung der Union, den autoritären Kapitalismus und die Rolle der AfD

Donnerstag, 6. Februar 2025
Interview von Fatih Yildirim

„Als Friedrich Merz vergangene Woche die Brandmauer zur AfD faktisch einriss, hielten viele das für einen Moment der Unbeherrschtheit. Doch die Ereignisse der letzten Tage zeigen, dass dahinter mehr steckt als ein politischer Fehler. Es ist Teil einer größeren strategischen Neuausrichtung“, sagt Ateş Gürpinar im Interview mit Capital Beat. Ein Gespräch mit dem stellvertretenden Vorsitzenden der Linkspartei über die Union, die AfD und die globalen wirtschaftlichen Umbrüche, die hinter dieser Entwicklung stehen.

Zur Person: Ates Gürpinar, Jahrgang 1984, gehört seit 2021 als Abgeordneter für die Partei Die Linke aus dem Wahlkreis Rosenheim dem Deutschen Bundestag an. Der Sohn eines türkischen Vaters und einer deutschen Mutter hat nach seinem Abitur 2003 in Darmstadt Theater- und Medienwissenschaft, Neuere Deutsche Literaturgeschichte und Philosophie sowie Ethik der Textkulturen in Erlangen und Athen studiert. Gürpinar trat 2010 der Partei Die Linke bei, für die bayerische Landtagswahl 2018 war er Spitzenkandidat für Die Linke Bayern. Er ist Mitglied im Ausschuss für Gesundheit. Seit Februar 2021 ist Ates Gürpinar stellvertretende Bundesvorsitzender von Die Linke und übernahm von Januar bis Oktober 2024 kommissarische die Bundesgeschäftsführung der Partei.

Herr Gürpinar, die CDU hat stets betont, es werde keine Zusammenarbeit mit der AfD geben. Wie interpretieren Sie die Ereignisse der vergangenen Tage?

Ateş Gürpinar: Die Behauptung, es gebe keine Zusammenarbeit mit der AfD, ist nach den jüngsten Vorgängen widerlegt. Letzte Woche wurde im Bundestag mit AfD-Stimmen eine Entscheidung getroffen, die ein Kernprojekt der extremen Rechten unterstützt: eine Verschärfung der Migrationspolitik. Spätestens auf dem Parteitag am Montag wurde klar, dass das kein Ausrutscher war.

Warum dieser Kurswechsel? Hat Friedrich Merz die Kontrolle über seine Partei verloren?

Ateş Gürpinar: Ganz im Gegenteil. Nach Montag bin ich überzeugt, dass das Ausdruck einer bewussten Strategie ist. Die Union bewegt sich seit Jahren weiter nach rechts. Nun kommt hinzu, dass sich auch global die tektonischen Platten verschieben. Die AfD wird zunehmend als Teil einer größeren geopolitischen Strömung gesehen – und diese ist eng mit den wirtschaftlichen Interessen der Union verwoben.

Inwiefern?

Ateş Gürpinar: Wir erleben weltweit einen Aufstieg autoritär-kapitalistischer Modelle. Das hielt mit Trump und Musk nun auch Einzug ins Weiße Haus. Die beiden setzen radikal auf Deregulierung, Steuersenkungen für Konzerne und die Abschaffung sozialer Sicherungssysteme. Die AfD ist in dieser Hinsicht der natürliche deutsche Partner. Und sie hat ihren Kompass in der Hinsicht bereits neu ausgerichtet. Noch vor einem Jahr war sie europafeindlich und russlandnah, jetzt hat sie ihren außenpolitischen Kurs den neuen Machtverhältnissen angepasst. Das dürfte auch in der Union nicht unbemerkt geblieben sein.

Was bedeutet das für die deutsche Politik?

Ateş Gürpinar: Das bisherige Parteiensystem ist in Bewegung. Die Union erkennt, dass eine neue Achse entsteht: eine Verbindung von autoritärem Kapitalismus und Rechtspopulismus. Es geht zunächst nicht darum, mit der AfD zu koalieren. Aber die Union öffnet sich für eine Zusammenarbeit in bestimmten Politikfeldern – vor allem in der Migrations- und Wirtschaftspolitik. Merz hat das auf dem Parteitag deutlich gemacht: Deregulierung, Senkung von Unternehmenssteuern, Abschaffung sozialer Sicherungssysteme. Das sind klassische Projekte des Marktradikalismus, und hier gibt es kaum noch Unterschiede zur AfD.

Was treibt Friedrich Merz persönlich an?

Ateş Gürpinar: Merz ist ein Mann des Großkapitals. Er war Aufsichtsratschef von Blackrock Deutschland, ist durch seine Vergangenheit als Konzern-Anwalt eng mit Großunternehmen verbunden und hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er den Sozialstaat für ein Hindernis hält. Die aktuellen geopolitischen Entwicklungen bieten ihm eine Gelegenheit, seine Vision eines ungehemmten Marktes mit autoritären Mitteln durchzusetzen. Das erklärt auch, warum er plötzlich weniger Berührungsängste mit der AfD hat.

Bedeutet das, dass Deutschland vor einer schwarz-blauen Regierung steht?

Ateş Gürpinar: Die Hemmschwelle sinkt. Die Strategie scheint zu sein, die AfD nicht direkt ins Boot zu holen, aber durch eine schrittweise Normalisierung ihre Positionen gesellschaftsfähig zu machen. Das zeigt sich auch an der Art, wie Merz die AfD kritisiert: Nicht für ihre menschenfeindlichen Positionen, sondern nur für ihre Haltung zur Westbindung, zuNATO und Euro. Er signalisiert: Wenn sich die AfD hier anpasst, gibt es kaum noch Hindernisse. Und sie hat sich schon angepasst.

Wie reagieren SPD und Grüne auf diese Entwicklung?

Ateş Gürpinar: Planlos. Statt eine klare Alternative zu bieten, gehen sie taktische Kompromisse ein, um die Union als möglichen Regierungspartner nicht zu verprellen. Ralf Mützenich hat im Wahlkampf bereits Abstriche beim Bürgergeld angedeutet, Robert Habeck zeigte sich zuletzt in der Asylpolitik entgegenkommend. Aber wer glaubt, man könne mit kleinen Zugeständnissen die Union aufhalten, irrt sich.

Welche Konsequenzen hat das für Deutschland?

Ateş Gürpinar: Die gesellschaftlichen Konflikte werden härter. Wir sehen das in den USA, in Frankreich, in Italien: Wo sich autoritärer Kapitalismus durchsetzt, wachsen soziale Spannungen, nimmt politische Gewalt zu. In Deutschland stehen wir an einem Wendepunkt. Die Frage ist: Akzeptieren wir diesen Kurs – oder organisieren wir Widerstand?

Wie könnte dieser Widerstand aussehen?

Ateş Gürpinar: Es ist wichtig, reicht aber nicht aus, gegen die AfD zu demonstrieren. Die Brandmauer gegen den Faschismus muss mit einer klaren sozialen und wirtschaftspolitischen Alternative verbunden werden. Das bedeutet: Stärkung der sozialen Sicherungssysteme, Investitionen in Bildung und Infrastruktur, demokratische Kontrolle der Wirtschaft. Wer diesen Kampf nicht führt, überlässt das Feld den Milliardären – und ihren politischen Erfüllungsgehilfen.

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