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Industriepolitik 2.0

Europas Aufbruch zwischen Dekarbonisierung und Digitalisierung

Freitag, 7. November 2025
Torsten Robert

Europa steht an einem Wendepunkt. Zwischen Klimazielen, Energiekrise und digitalem Umbruch formt sich eine neue industrielle Realität. Während Brüssel den „Green Deal“ als Fortschritt feiert, kämpfen Unternehmen um Wettbewerbsfähigkeit und Planungssicherheit. Die Frage ist längst nicht mehr, ob die Transformation gelingt – sondern, wie lange sich Europa noch leisten kann, zu zögern.

Vom Regelwerk zur Realität

Was in Brüssel als „Green Deal“ begann, ist längst ein Strukturprojekt historischen Ausmaßes. Fabriken sollen ohne fossile Energie auskommen, Lieferketten widerstandsfähiger werden, Produkte zirkulär gedacht sein. Doch während die Vision stimmt, hapert es am Weg dorthin. Christian Kullmann, Vorstandsvorsitzender von Evonik, hat es in einem Satz verdichtet: „Wir haben das weltweit schärfste CO₂-Gebührenregime, aber das Klima kennt keine Grenzen.“

Der Satz trifft ins Mark. Die europäische Industrie trägt hohe Klimakosten, während Wettbewerber in Asien oder den USA mit Subventionen operieren. Kullmanns Kritik zielt nicht auf das Ziel, sondern auf die Methode. Wer Unternehmen mit Auflagen überzieht, ohne ihnen Handlungsspielraum zu lassen, gefährdet Investitionen – und damit Arbeitsplätze.

Der Umbau wird teuer – und er lohnt sich nur mit Tempo

Der Bundesverband der Deutschen Industrie schätzt den Investitionsbedarf für die Transformation auf über 600 Milliarden Euro bis 2045. Ein Kraftakt, der nur gelingt, wenn Kapital, Energie und Innovation ineinandergreifen. Doch derzeit steht zu viel Geld auf der Bremse: komplizierte Förderbedingungen, fragmentierte Zuständigkeiten, endlose Genehmigungen. Wer hier von Industriepolitik spricht, sollte nicht über Programme reden, sondern über Prozesse.

Digitalisierung als Schlüssel zur Wettbewerbsfähigkeit

Klimaneutrale Produktion ist ohne digitale Systeme kaum denkbar. Sensorik, automatisierte Steuerung, KI-gestützte Planung – sie sind das Rückgrat moderner Wertschöpfung. Trotzdem setzt laut EU-Kommission nur etwa ein Drittel der europäischen Industriebetriebe auf datenbasierte Verfahren. Das zeigt ein strukturelles Problem: Europa versteht Digitalisierung oft als Technikthema, nicht als strategisches Werkzeug. Dabei entscheidet sich an der Schnittstelle zwischen Algorithmen und Anlagen, ob Dekarbonisierung wirtschaftlich tragfähig bleibt.

Bill Gates und der Pragmatismus der Macher

Bill Gates nennt die Umstellung auf eine emissionsfreie Wirtschaft „die größte Transformation, die die Weltwirtschaft je erlebt hat“. Für ihn liegt der Schlüssel nicht in Verzichtsrhetorik, sondern in technischem Fortschritt. Er fordert, Innovation als industrielle Aufgabe zu begreifen – vergleichbar mit der Elektrifizierung oder dem Aufbau des Internets. In dieser Perspektive liegt Europas eigentliche Chance: Forschung, Ingenieurskunst und Unternehmergeist neu zu bündeln.

Die Mechanik der Transformation

Drei Hebel bestimmen, ob Europas Industriepolitik mehr wird als ein politisches Schlagwort. Erstens: Energie muss wieder verlässlich und bezahlbar sein – sonst bleibt Klimaneutralität eine schöne Idee ohne Fundament. Zweitens: Datenräume sind das neue industrielle Nervensystem. Nur wenn Wirtschaft, Forschung und Start-ups ihre Informationen teilen, entsteht die Dynamik, die Innovation wirklich antreibt. Und drittens: Die Förderlogik braucht ein Update. Nicht Papier entscheidet über Fortschritt, sondern Wirkung. Gefördert werden sollte, was sichtbar verändert – nicht, was sich sauber beantragen lässt.

Der neue industrielle Realismus

Europa muss aufhören, Moral und Machbarkeit gegeneinander auszuspielen. Dekarbonisierung und Digitalisierung sind keine Gegensätze, sondern die doppelte Triebfeder einer erneuerten Wirtschaft. Wer das versteht, denkt nicht mehr in Verboten, sondern in Möglichkeiten.

Oder, um es mit Gates’ nüchternem Optimismus zu sagen: Klimaschutz gelingt, wenn Technologie schneller ist als der Schaden, den wir verhindern wollen. Wenn Europa das beherzigt, entsteht mehr als saubere Industrie – es entsteht Zukunft.

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