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Energiesicherheit nach der Ukraine

Hat Europa eine Abhängigkeit gegen eine andere eingetauscht?

Mittwoch, 6. August 2025
Hamid Ali Mujahid

Am 27. Juli 2025 hat die EU zugesagt, zwischen 2026 und 2028 US-Energieprodukte im Wert von 750 Milliarden Dollar zu kaufen – LNG, Öl und Kernbrennstoffe. Im Jahr 2024 importierte die EU Energieprodukte im Wert von nur etwa 70 Milliarden US-Dollar aus den USA. Um das gesetzte Ziel von 750 Milliarden US-Dollar zu erreichen, müsste die EU ihre derzeitigen Energieimporte jährlich verdreifachen. Gemäß Artikel 194 Absatz 2 AEUV kann die EU jedoch keine direkte Verpflichtung zum Kauf von Energie aus den Vereinigten Staaten auferlegen. Daher scheint es bei diesem Abkommen weniger um Energie zu gehen als vielmehr um eine strategische Geste, um drohende US-Zölle abzuwenden, was kritische Fragen zur Autonomie der EU in der Energiepolitik aufwirft.

Jahrelang war der europäische Kontinent von russischem Pipelinegas abhängig, das 2021 fast 40 Prozent seines gesamten Gasverbrauchs ausmachte. Die russische Invasion in der Ukraine im Februar 2022 zwang Europa jedoch, unverzüglich nach alternativen Energiequellen zu suchen, was zu einer raschen Diversifizierung hin zu amerikanischem Flüssigerdgas (LNG) führte. Bis 2024 gingen die russischen Pipelinegaslieferungen auf nur noch 11 Prozent zurück. Laut Eurostat stammten im ersten Halbjahr (H1) 2025 55 % der LNG- und Erdgasimporte der EU aus den Vereinigten Staaten, während 17 Prozent weiterhin aus Russland stammten.

Von russischen Pipelines zu amerikanischem LNG: Eine neue Abhängigkeit?

Die Umstellung von russischem Pipelinegas auf amerikanisches LNG wurde durch hochrangige politische Verpflichtungen untermauert. Im März 2022 gaben die USA und die EU eine gemeinsame Erklärung ab, in der beide Seiten vereinbarten, „die Abhängigkeit Europas von russischer Energie zu verringern”, und die USA sich verpflichteten, „zusätzliche LNG-Mengen für den EU-Markt in Höhe von mindestens 15 Mrd. Kubikmetern im Jahr 2022 mit voraussichtlichen Steigerungen in den Folgejahren” bereitzustellen. Ziel war es, Europa in der Krise bei der Gewährleistung seiner Energiesicherheit zu unterstützen und die REPowerEU-Ziele der EU zu fördern, die Abhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen bis 2027 zu beenden. In ähnlicher Weise versprach auch die Europäische Kommission, die Regulierungsprozesse für LNG-Importinfrastrukturen zu beschleunigen. Zu diesem Zweck richtete sie eine EU-Energieplattform ein, um die Nachfrage zu koordinieren und langfristige Vertragsmechanismen zu erleichtern.

Auf den ersten Blick schien diese Verlagerung eine pragmatische Notwendigkeit zu sein, d. h. die Abkopplung von einem aggressiven autoritären Regime bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Energieflüsse. Es wird jedoch immer deutlicher, dass Europa lediglich eine externe Abhängigkeit durch eine andere ersetzt hat, die unter der Führung von Trump noch unzuverlässiger ist. Amerikanisches LNG macht mittlerweile mehr als 60 Prozent der europäischen Gasimporte aus, was neue Risiken im Zusammenhang mit den transatlantischen Schifffahrtsrouten, den US-Exportbestimmungen und der Marktvolatilität mit sich bringt. Im Jahr 2025 warnte die Internationale Energieagentur (IEA) zudem, dass „eine übermäßige Abhängigkeit von einer kleinen Anzahl von Lieferanten“ besondere geopolitische Risiken mit sich bringe.

Kerstin Andreae, Vorsitzende des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), erklärte gegenüber Diplomacy Berlin: „Wenn die russischen Gasmengen durch US-LNG ersetzt werden, würde dies jährlich rund 40 Mrd. Kubikmeter ausmachen – bei den aktuellen Preisen etwa 12 bis 14 Mrd. Euro pro Jahr. Selbst wenn das Verhältnis zwischen den Rohstoffen in den Energieimporten unklar ist und die Gesamtsumme von 750 Milliarden Euro als vertraglich vereinbarte Energiemengen interpretiert würde, würde dies über einen Zeitraum von 15 Jahren etwa 180 Milliarden Euro für Erdgas bedeuten.“

Diese Zahlen werfen ernsthafte Fragen hinsichtlich der Nachhaltigkeit und Glaubwürdigkeit des vorgeschlagenen Abkommens auf, da sie nicht mit dem tatsächlichen Gasbedarf Europas oder den historischen Importmengen übereinstimmen. Einerseits scheint das Abkommen weitgehend symbolisch zu sein und mehr mit Geopolitik als mit Energielogistik zu tun zu haben. Andererseits signalisiert es auch eine übermäßige Verpflichtung zu Energiefolgen, die den Energiebedarf oder die Infrastrukturkapazitäten Europas übersteigen und erhebliche finanzielle und strategische Risiken mit sich bringen. In jedem Fall weist Andreae auf ein gravierenderes Problem hin: Das Abkommen birgt die Gefahr, Europa an langfristige Vereinbarungen zu binden, die seiner eigenen Energieunabhängigkeit und seinen Dekarbonisierungszielen zuwiderlaufen könnten.

Grüne Wende: Ambitionen inmitten einer Fragmentierung

Die Energiekrise hat auch zu einer beispiellosen politischen Einigung geführt, die Dekarbonisierung Europas zu beschleunigen. Im Jahr 2022 wurden mit dem Europäischen Grünen Deal und dem REPowerEU-Plan ehrgeizige Ziele festgelegt, darunter eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen um 55 % bis 2030 und die Erreichung der Klimaneutralität bis 2050. Verschiedene erneuerbare Energiequellen wie Wind- und Solarenergie wurden mit Hilfe von Investitionen in Höhe von 350 Milliarden Euro aus dem Europäischen Verteidigungsfonds und privatem Kapital rasch ausgebaut.

Allerdings gibt es innerhalb der EU-Mitgliedstaaten tiefe Meinungsverschiedenheiten über das Tempo und die Methode der Energiewende. Länder wie Frankreich und Deutschland befürworten die Kernenergie als kohlenstoffarme Grundlastquelle. Der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz ist ein Befürworter der Kernenergie und hält den Ausstieg aus der Kernenergie für einen „schwerwiegenden strategischen Fehler”. Frankreich deckt mehr als 70 % seines Stromverbrauchs aus Kernenergie, lehnt jedoch Pläne zum vorzeitigen Ausstieg aus der Kernenergie ab.

Auf der anderen Seite lehnen Länder wie Dänemark, Irland und Österreich die Kernenergie nach wie vor entschieden ab und setzen stattdessen auf Energieeffizienz und erneuerbare Energien. Diese Diskrepanz verlangsamt wichtige Investitionen und die Harmonisierung der Rechtsvorschriften und erschwert die Verabschiedung einer kohärenten Energiepolitik für die gesamte EU. Wenn diese Probleme nicht gelöst werden und keine robusten Energiespeicher und eine Modernisierung der Netze für erneuerbare Energien gewährleistet werden, könnte dies zu Versorgungsschwankungen und Preissteigerungen führen.

Weiterreichende Auswirkungen auf die strategische Autonomie Europas

Europas Streben nach strategischer Autonomie ist weiterhin ein zentrales Thema in der Verteidigungs- und Energiedebatte. Die jüngsten Ereignisse machen jedoch die anhaltenden Einschränkungen deutlich. Die strategische Energieautonomie Europas ist zwar erstrebenswert, aber unvollständig, wie die übermäßige Abhängigkeit von amerikanischem Flüssigerdgas (LNG) und interne Konflikte über die Energiepolitik zeigen. Sie sorgt zwar kurzfristig für Widerstandsfähigkeit, setzt Europa aber auch externen Herausforderungen aus.

Die grüne Wende ist zwar die langfristige Vision Europas, ist jedoch von internen Konflikten und technologischen Schwierigkeiten geprägt. Um strategische Autonomie zu gewährleisten, muss die EU ihre Energiesysteme miteinander vernetzen, technologische Innovationen im Bereich der Speicherung und erneuerbaren Energien fördern und divergierende nationale Interessen in einer kohärenten Politik ausgleichen. Dazu gehören die Diversifizierung der Lieferketten, Investitionen in umweltfreundliche Technologien und die Schaffung eines Gleichgewichts zwischen externen Partnerschaften und interner Widerstandsfähigkeit.

Wie Andreae es ausdrückt: „Das Grundprinzip besteht darin, die Gasversorgung weiter zu diversifizieren, um Konzentrationsrisiken mit einzelnen Lieferländern zu vermeiden.“ Letztendlich geht es bei der Energiewende in Europa weniger um die Beseitigung von Abhängigkeiten als vielmehr um deren strategische Umverteilung in einer multipolaren Welt.

Die englische Version dieses Beitrag auf Diplomacy Berlin.

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