Die Idee einer Wehrpflicht feiert in Europa ein Revival - auch in Deutschland
Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung liegt vor. Dennoch gibt es Streitigkeiten.
Was ist im Grundgesetz verankert, seit 2011 allerdings ausgesetzt, und erfährt in jüngsten Diskussionen eine Art Renaissance? Die Wehrpflicht. Wo früher jeder gesunde junge Mann entweder in unterschiedlichen Funktionen bei der Bundeswehr Dienst (oder einen [längeren] Ersatzdienst) leisten musste, war seit 2011 nur noch Freiwilligkeit gefragt. Infolgedessen schrumpfte die Bundeswehr von fast 500.000 aktiven Soldaten in den späten 80er-Jahren auf eine aktuelle Truppenstärke von 183.100.

Vor allem unter dem Eindruck des aggressiven Nachbarn Russlands, haben in den vergangenen zehn Jahren u.a. Litauen (2015), Schweden (2017) und Lettland (2023) eine Wehrpflicht wieder eingeführt. Norwegen wurde bereits 2015 das erste NATO-Mitglied mit geschlechtsneutraler Wehrpflicht, Dänemark folgte im Jahr 2018. Ein Trend zeichnet sich ab.
Sehen Befürworter einen durch Wehrdienstleistende gesteigerten Schutz für ihr Land durch ein stärkeres Heer, das vor allem das immer aggressiver agierende Russland abschrecken soll sowie einen gestärkten gesellschaftlichen Zusammenhalt, so warnen Kritiker vor staatlich erzwungener Militarisierung junger Menschen, einem zu hohen finanziellen Aufwand und bürokratischer Unwucht. Und das alles ohne einen wirklichen Sicherheitsgewinn.
Das Regierungskonzept: Das planen CDU und SPD
Der nun vom Bundesverteidigungsministerium erarbeitete Gesetzesentwurf lässt die Finger von einer Wiedereinführung der Wehrpflicht, sorgt aber dafür, dass alle Personen, Männer wie Frauen, über 18 Jahren ab 1. Januar einen Brief inklusive QR-Code oder Link zu einem Online-Fragebogen erhalten. In diesem werden sie aufgefordert, Fragen zu ihrem Gesundheitszustand und ihrem Bildungsstand zu beantworten. Die wichtigste Frage aber: Sind Sie (wehr-)dienstbereit. Während junge Männer verpflichtet sind, zu antworten, können die erfassten und angeschriebenen Frauen den Brief, ungeöffnet im Papierkorb entsorgen.
Ziel der Maßnahme: Die aktuelle Zahl von 183.100 aktiven SoldatInnen soll bis 2029/2030 um etwa 80.000 auf 260.000 Personen ansteigen. Statt aktuell ca. 49.000 ReservistInnen wünscht man sich bis dahin die vierfache Menge: ca. 200.000. Bereits 2026 soll ein Dienstbeginn möglich sein mit einer Dauer von sechs Monaten. Längere Dienstzeiten sind frei vereinbar zwischen der Bundeswehr und ihren Freiwilligen. Zusätzlich lockt ein höherer Sold als bisher. Größter Streitpunkt zwischen den Regierungspartnern CDU/CSU und SPD ist ein „automatischer Mechanismus“. Dieser sieht vor, dass per Rechtsverordnung und Zustimmung des Bundestags ein „Pflichtdienst“ aktiviert werden kann. Heißt: Gewinnt die Bundeswehr nicht ausreichend viele Freiwillige, kommt, quasi durch die Hintertür, eine Wehrpflicht.
Mehr Soldaten und mehr Angst vorm Wehrdienst
Unerheblich, ob dieser Passus es ins Gesetz schafft oder nicht, verzeichnete die Bundeswehr von 2024 bis 2025 einen Rekordzuwachs. So stieg die Zahl der aktiven Soldaten zuletzt um 2.000 Personen. Für die Freiwilligen verkündete Generalinspekteur Carsten Breuer stolz „einen deutlichen Sprung nach vorne“. 15 % mehr junge Menschen hätten sich für den freiwilligen Wehrdienst entschieden, den derzeit 11.350 Personen ableisteten.
Auf der anderen Seite berichtete der Wehrdienstgegner und Autor Ole Nymoen im Talk bei Markus Lanz von Anfragen verängstigter Männer. Dort werde ihm immer öfter die Frage gestellt, ob man durch Änderung seines offiziellen Geschlechtseintrags dem Wehrdienst entgehen könne.
Die Koalition ist sich nicht ganz einig
Die Diskussion ist eröffnet. SPD-Partei-Grande Sigmar Gabriel (SPD) sieht „Verteidigungsfähigkeit und Abschreckung [als] Voraussetzung für den Frieden sind“. Der ehemalige Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels sieht ohne eine „echte Wehrpflicht“ das Erreichen der, von der NATO gewünschten, Zielzahlen als illusorisch an. Und Reservistenverbandspräsident Patrick Sensburg möchte am liebsten ein „Massen-Heer“ mit bis zu einer Million Reservisten. Sonst, so Sensburg im Tagesspiegel, drohe im Ernstfall ein Zusammenbruch der Verteidigungslinie.
Dem gegenüber pocht SPD-Parteichef Lars Klingbeil auf Freiwilligkeit. Klar erklärte er in der Bildzeitung, dass es keine Rückkehr zur alten Wehrpflicht geben werde. Doch müsse man für den Notfall Voraussetzungen für einen verpflichtenden Dienst schaffen.
Pflicht auch für Frauen und/oder für alle zwischen 18 und 67 Jahren
Wieder andere Stimmen fordern, eine Musterung auch auf Frauen auszudehnen. Laut CDU-Ministerpräsident Daniel Günther und Eva Högl (SPD) seine eine Wehrpflicht nur für Männer nicht mehr zeitgemäß. Problem hierbei: Ein solcher Gesetzesentwurf muss mit einer Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag verabschiedet werden, denn er würde das Grundgesetz ändern. Statt der erforderlichen 420 Stimmen verfügt die Regierungskoalition (328 Sitze) nicht – selbst für den Fall, dass die grüne Bundestagsfraktion geschlossen zustimmen würde (85 MdBs), käme man nur auf 413.
Sprich: Neben den Stimmen der Grünen-Fraktion bräuchte die Koalition auch mindestens 7 Stimmen aus Reihen der Linken (67 MdBs) oder der AfD (152). Da man sich gemeinsame Abstimmungen mit der AfD, zumal bei einem solchen Thema, nicht vorstellen kann, bliebe theoretisch die Linke übrig. Doch diese hat sich Anfang des Jahres auf einer Klausurtagung in Duisburg, darauf geeinigt, einen eigenen Antrag in den Bundestag einzubringen. Das Thema: Das Streichen der Wehrpflicht aus dem Grundgesetz.
Bliebe als weiterer Vorschlag noch eine Idee der Grünen: das verpflichtenden Freiheits- oder Gemeinwohldienstjahr für alle BürgerInnen zwischen 18 und 67. Auch hierfür braucht es wieder eine Zweidrittel-Mehrheit. Für die aktuelle Konsenslösung mit dem Ende August eingebrachten Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Wiedereinführung eines freiwilligen Wehrdienstes, muss zumindest nicht die Verfassung geändert werden. Hier reicht eine einfache Mehrheit (wobei die Koalition ja bereits mehrmals gezeigt hat, dass einfache Mehrheiten nicht immer einfach zu organisieren sind).