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Gemischte Halbzeit-Bilanz des 9-Euro-Tickets der Bahn
Mittwoch, 27. Juli 2022
Dietmar Sittek

Seit gut der Hälfte der Zeit gibt es das 9-Euro-Ticket. Von der Bundesregierung als Entlastung angesichts von Preiserhöhungen gedacht, hat es auch viele Freizeitreisende auf die Schiene gelockt. Aber was bei Nutzern für Jubel sorgt, bekümmert die Bahnbeschäftigten; denn angesichts der kurzfristigen politischen Entscheidung war es kaum möglich, Vorbereitungen zu treffen. Und so gab es gerade an den Wochenende häufig volle Bahnhöfe und Züge. Deswegen wehrt sich die Eisenbahngewerkschaft EVG gegen eine Fortführung zu gleichen Konditionen.

„Zur Halbzeit fällt die Bilanz für das Neun-Euro-Ticket positiv aus. Das Zwischenergebnis zeigt aber auch, dass dem ÖPNV Reformen fehlen. Über 30 Millionen Tickets kamen aus den Automaten oder in Apps.

Oliver Wolff vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen ist zufrieden mit der Nutzung des günstigen Tickets: „Nachfrage, Bekanntheit und Attraktivität des 9-Euro-Tickets sind ungebrochen hoch, wir verzeichnen überall vollere Busse und Bahnen. Sehr erfreulich ist auch, dass ein Fünftel der Käuferinnen und Käufer angibt, dass es den ÖPNV zuvor normalerweise nicht genutzt hat. Dabei wären sechs Prozent der Fahrten ohne das 9-Euro-Ticket mit einem anderen Verkehrsmittel außerhalb des ÖPNV unternommen worden, davon gut die Hälfte mit dem Auto.“

Doch nicht überall fällt die Bilanz so positiv aus. Das Entlastungspaket der Bundesregierung sei zu einem „Belastungspaket“ für die Bahnbeschäftigten geworden; Arbeitnehmervertreter befürchten steigende Krankenstände. Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG sieht das Experiment Neun-Euro-Ticket auf dem Rücken der Mitarbeiter durchgesetzt.

EVG-Vize Martin Burkert erklärt: „Also der Dank gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die oftmals über ihre Belastungsgrenze hinausgegangen sind, vor allem an Wochenenden, an Sonn und Feiertagen, in den Küstenregionen, aber auch in den Bergregionen, in Metropolen.“

Gut funktioniert hat die bundesweite Gültigkeit des Tickets, erlaubt es doch nahtlos Reisen über Grenzen der Verkehrsverbünde hinweg. Und auch die einfachen Ticket-Bedingungen überzeugen.

Überfüllte Bahnhöfe und Züge gleich am ersten Feiertagswochenende im Juni haben gezeigt, dass viele Strecken nicht auf mehr Fahrgastzahlen vorbereitet waren.

Und das wiederum bekommen die Mitarbeiter zu spüren, berichtet Heike Moll, Vorsitzende des Gesamtbetriebsrates der Mitarbeiter in den Bahnhöfen aus eigener Erfahrung: „Ich hab’s jetzt zweimal selber erlebt, die finde es ganz furchtbar. Ich war mit einer Kollegin in der Service Schicht. Es kam ein Reisender, der hat seinen Zug verpasst. Er selber, weil er zu spät dran war, fragte nach der nächsten Zugverbindung und die Kollegin gab sich Mühe und sagte in die und sagt ‚Ja, sie müssen aber leider zwei Stunden warten, vorher geht nix‘. Dann guckte sie an uns sagt: ‚Sie asoziale Schlampe‘. Was ist das denn für ein Benehmen?“

Das ganz große Chaos, wie es an den verlängerten Wochenende um Himmelfahrt und Pfingsten erwartet wurde, blieb aus. Aber auf touristisch ohnehin belasteten Linien, mussten Züge geräumt werden. Das Neun-Euro-Ticket sorgt durch überfüllte Züge gerade im Regional­express für größere Verspätungen.

Ralf Damde, Chef des Gesamtbetriebsrates von DB Regio, zieht Bilanz: „Vor sechs Wochen ging es los. Die Befürchtungen, die wir hatten, sind alle eingetreten. Wir haben kein Nachfrageproblem, sondern wir haben Angebotsproblem. Und das Angebotsproblem zeigt sich immer deutlicher. Wir haben weder genug Fahrzeuge noch genug Personal um den Verkehr zu bewältigen. Die Leute sind sozusagen Oberkante Unterlippe.“

Österreich ist einen anderen Weg gegangen, dort wurde erst der Nahverkehr ausgebaut und dann ein sehr günstiges Jahresticket eingeführt; dieses österreichische Modell wird auch für Deutschland diskutiert. Spätestens bei der Verkehrsministerkonferenz von Bund und Ländern im Herbst. Parallel tagt bereits eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe zu Reformmöglichkeiten des ÖPNV.

Eine Verlängerung des 9-Euro-Tickets schließen Verkehrsminister Volker Wissing und Finanzminister Christian Lindner aus.

Das Neun-Euro-Ticket hat also nicht nur viele Fahrgäste, sondern auch die Politik in Bewegung versetzt. Eine rasches Anschlussangebot in ähnlicher Form wird aber so schnell nicht kommen.“